Schon verrückt, welche immense Rolle die Psyche beim Bergsteigen so einnimmt. Ab dem Moment meiner Buchung für den Chimborazo-Anstieg vergangenen Freitag kreisen die Gedanken nur noch um ein Thema: dem Berg.
Seit vorgestern bewege ich mich rund um den Chimborazo und versuche mich angemessen zu akklimatisieren. Ich muss nämlich gestehen, dass mich die siebenstündige Tour auf rund 6300 Meter (inklusive der dreistündigen Tour zurück), zum Teil bei 40% Gefälle, über Gletscherspalten hinweg und mit uneinschätzbaren Witterungsbedingungen dann doch etwas einschüchtert. Je länger ich hier bin und desto mehr Menschen und Berführer ich kennenlerne, die allesamt verschiedene Horrorgeschichten auf Lager haben (auf die ich jetzt besser nicht eingehe), desto mehr Respekt entwickelt sich vor der höchsten Erhebung Ecuadors. Auf dem Gipfel des aktiv schlafenden Vulkans ist man dank des ovalförmigen Globus’ am Weitesten vom Erdmittelpunkt entfernt – sogar noch weiter als auf der Spitze des Everests. Whaaat? Ganz recht. Der Schwierigkeitsgrad wird als “schwierig” eingestuft und laut Guides erreichen nur rund 40% überhaupt die Spitze. Super Quoten.
Die Gründe dafür liegen meist in:
1. Zähen Witterungsbedingungen
2. Fehlender Akklimatisierung
3. Schlechter konstitutioneller Verfassung
4. Schlechter Ausrüstung
5. Tod
6. Sonstiges
Gegen erstens kann ich nichts, allerdings soll das Wetter die letzten Tage ganz gut gewesen sein, sprich kalt (man braucht festes Eis zum Treten). Drittens sollte einigermaßen passen, ich mein, wozu bin ich denn dieses Jahr rund 0,2 Mal im Monat ins Fitnessstudio gegangen? Viertens sollte nun auch passen: habe mir jetzt neue Handschuhe geholt, nachdem mich meine alten am Cotopaxi im Stich gelassen haben. Fünftens versuche ich tunlichst zu vermeiden. Und der fehlenden Akklimatisierung wirke ich brav mit Intervallaufstiegen entgegen. Der Akklimatisierungsprozess selbst ist wirklich eine ganz eigene Wissenschaft und selbst wenn man bilderbuchartig vorgeht ist noch lange nicht garantiert, dass man bei 100 Prozent Anpassung angekommen ist.
So kommt es, dass ich trotz aller guten Voraussetzungen ein bisschen nervös bin. Dann aber wieder packt es mich und ich versuche positiv zu denken: wieso sollte ich schlechter als die besten 40 Prozent sein? Den Cotopaxi habe ich doch auch relativ gut gemeistert. Hallo Philipp, du hattest Sport Leistungskurs! Wär ja gelacht…
Am Freitagmorgen habe ich in weiser Voraussicht schonmal mit einer kleinen aber sehr feinen Fahrradtour in der Höhe begonnen. Es ging den Chimborazo vom ersten Refugium in 4800 Metern Höhe acht Kilometer herunter und dann weitere 46 KM fast ausschließlich abwärts einen wunderschönen Gebirgspass entlang. Endstation ist die Stadt Ambato, in der es absolut nichts zu sehen gibt.
Kommen wir deshalb zu Tag zwei meiner intensiveren Akklimatisierungsvorbereitung, den ich auf rund 3800 Meter Höhe im nahe des Nationalparks gelegenen Hostel Casa Condor verbracht habe. Mit dem Bus ging es für 2,40 Dollar (MVV aufgepasst!) von Riobamba rund 35 Minuten Richtung Norden. Den Namen verdankt die Herberge übrigens ihrem speziellen Grundriss, der wie ein Condor geschnitten ist und höchst einladend wirkt. Mitten im völlig traditionellen 20-Seelen-Dorf steht das im Vergleich zur Nachbarschaft stabil wirkende Gebäude. Umgeben von heruntergekommen Holzbaracken, dutzenden Schafen, einem sehr traurig wirkendem, weil angebundenem Esel, Wildpferden und einem sehr fettem Schwein, genieße ich zum ersten Mal seit langer Zeit die fast völlige Einsamkeit. Bis auf eine etwas schrumpelige aber herzzerreißend freundliche kleine Quichua-Dame (Quichua sind die Ureinwohner Ecuadors), die das Gebäude im Namen der Gemeinde verwaltet, habe ich das beheizte Mehrbettzimmer für mich allein. Nachmittags laufe ich planlos in die Pampas um etwas Höhenmeter gut zu machen, und treffe zufällig auf ein weiteres kommerzielles Basislager. Neugierig trete ich ein, sehe die Inneneinrichtung und bin sofort wie weggeblasen: hier hat sich irgend ein Dekorateur und leidenschaftlicher Bergsteiger in einer solchen detailvielfalt selbstverwirklicht, dass ich gar nicht weiß wo ich zuerst hingucken soll (siehe Foto). Für 75 Dollar die Nacht kann man hier gemütlichst einkehren. Wie ich später erfahre gehört die Hütte Marco Cruz, einem bekannten Bergsteiger von dem ich auf einer Weihnachtsfeier kurz zuvor schonmal gehört habe. Damals war es noch irgendein Bekannter eines Familienangehörigen – jetzt ist es ein ganz dicker roter Punkt auf meinem Kontakt-Radar, den ich wohl Mal hätte früher auf dem Schirm haben sollen. Nicht das es in der charmanten Casa Conder nicht nett war. Und für zwölf Dollar die Nacht auch wirklich günstig.
Wie dem auch sei, ich ziehe weiter und erreiche mein Ziel, rund 4300 Höhenmeter. Auf dem Weg begegnet mir eine Gruppe scheuer Vicuñas. Die Tiere, die ein bisschen so aussehen wie grazilere Lama-Ballerinas waren noch vor nicht allzu langer Zeit fast ausgestorben (weil sehr lecker). Mit Hilfe von Peru, Chile und Bolivien wurde die Art hier wieder rehabiliert. Sie leben ausschließlich in freier Wildbahn, Alpacas hingegen ausschließlich domestiziert. Unnützes Wissen #263.
Am nächsten Tag fahre ich Anhalter und lasse mich am Eingang des Nationalparks rauswerfen. Hier werde ich eine sensationell schöne und sternklare Nacht verbringen, bevor mich am Folgetag mein Bergführer abholt.
Heute geht es allerdings erstmal zu Fuß von 4300 auf 5000 Meter hinauf. Der Vulkan hüllt sich seit Tagen in dicken Wolken und nur ganz sporadisch blitzt Mal die Sonne durch. Nicht, dass man deswegen geschützt vor der Einstrahlung wäre: Fünf Minuten waren genug um mir einen saftigen Sonnenbrand ins Gesicht zu knallen. Einmal mehr bekommt man hier die Macht der Höhe vor Augen geführt. Ich steige ab und übe mich in Geduld; “Wolken? Macht nichts. Den Gipfel werde ich hoffentlich noch früh genug zu sehen bekommen”, denke ich.
Währenddessen fülle ich meinen Kohlehydratspeicher mit Kohlehydraten, ruhe mich brav aus und trete des Nachts vor die Tür um doch schon einen Anblick auf den Gipfel zu erhaschen. Heute Nacht habe ich Glück (siehe Foto): Ich blicke dem Chimborazo in die Augen, der Vollmond leuchtet auf sein Antlitz. Eine Einladung? Eine Herausforderung? Wie bin ich doch poetisch.
Achtung: Spannungsbogen! Nur noch 24 Stunden bis zum Anstieg. Wie soll man jetzt nur schlafen…?
An nächsten Morgen wird es langsam ernst: um 11 holt mich der Guide ab, wir fahren zum ersten Refugium. Also dorthin, wo das erste Refugium eigentlich wäre. Leider werden beide Hütten momentan renoviert, daher müssen wir campen. Das heißt für mich gleichzeitig: ich muss von 4800 Metern aus starten, anstatt von rund 5000. Jojo, macht es mit nur noch schwerer… Um 10 Uhr Abends klingelt der Wecker (ich hab natürlich keine Minute geschlafen), wir frühstücken und los gehts! Mein Guide legt sich gleich ordentlich ins Zeug und ich hab das Gefühl er will einen neuen Streckenrekord aufstellen. Speedy Gonzales gibt ein Tempo vor, dass ich die ersten vier Stunden ganz gut mithalten kann, dann wird es langsam zapfig.
Besonders auf dem Gletscher und mit Steigeisen ist jeder einzelne Schritt die reinste Qual, jeder Atemzug über 5700 Meter geht zäh. Es ist schweinekalt, vor allem der Wind zehrt an meinen Nerven. Man kann sich absolut nirgends verstecken und ist dem Treiben Petrus’ zu jedem Zeitpunk völlig ausgeliefert.
Immer wieder schießen mir Gedanken in den Sinn wie “Warum zur Hölle tust du dir das an?” und “Oh mein Gott, ich sterbe, wir aaaanstrengend!”. Und dann blicke ich wieder in den Himmel, sehe etwa zwei Billionen Sterne und denke “Aaah, deswegen!”. Heute sind die Witterungsbedingungen perfekt, ich fühle mich gut und ich sehe mich tatsächlich schon auf dem Gipfel. Nach rund sechs Stunden Aufstieg sehe ich mich tatsächlich auf dem Gipfel! Einfach unbeschreiblich, welches Gefühl dort oben ausgelöst wird. Es ist geschafft.
Leider bleibt nicht viel Zeit den Moment voll auszukosten: meine Schuhe haben unter diesen harten Bedingungen den Geist aufgegeben und mein linker Zeh ist seit geraumer Zeit eiskalt und nun spüre ich ihn nicht mehr. Ich befürchte das Schlimmste und bitte meinen Guide zurückzukehren. Leider waren wir so schnell oben, dass wir den Sonnenaufgang verpassen aber auch mein Guide will auch lieber auf Nummer sicher gehen und wir beginnen mit dem Abstieg. Und der ist kein Spaziergang; wie schon beim Cotopaxi stellt sich der Abstieg als deutlich anstrengender heraus als der Antieg. Auf halber Höher checke ich die Farbe meiner Zehen. Links färbt sich schon ziemlich blau, rechts lila. Höchste Eisenbahn also, daher beschließe ich ein bisschen den Gletscher runter zu rutschen. Hat glaub ich auch noch niemand so versucht. Währenddessen ist die Sonne aufgegangen und ich genieße den Ausblick. Erneut weit über den Wolken sind auch schnell die Schmerzen (oder fehlenden Schmerzen) eingefrohrener Zehen vergessen. Unten angekommen, Entwarnung: es fließt immernoch Blut und alles ist gut. Jetzt will ich bis Chile allerdings nichts mehr von hochalpinen Bergen oder Vulkanen wissen. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Sogar das Tippen fällt mir schwer. Deswegen leg ich mich jetzt hin. Stay tuned!
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